

Almen, Alpen und Berghütten verbindet der Wanderer vor allem mit Bergurlaub und Unbeschwertheit. Dabei sind die friedlich anmutenden Orte einer Bedrohung ausgesetzt – dem Klimawandel.
Andrea Friedle (56) lehnt in grauem Kittel und dunkler Jeans an einem alten Weidezaun, der die kleine Alphütte mit Wohnhaus und Stallungen von der Wiese trennt. Sie lässt ihren Blick über die Landschaft schweifen und deutet dann mit beiden Händen in Richtung Tal, wo der Wald beginnt: „Vor zwei Jahren hat`s uns einen Teil des Zufahrtsweges weggeschwemmt!“ Damals war die Kaiseralpe, die im Tiroler Lechtal auf rund 1700m liegt, kurzzeitig nicht für Besucher erreichbar. In dem kleinen, österreichischen Familienbetrieb, den sie mit ihren zwei Kindern und Schwiegerkindern führt, ist Andrea Friedle seit fünf Jahren Sennerin und Chefin. Begleitet vom Rauschen des Gebirgsbaches und dem Geläut der Kuhglocken produziert sie hier täglich 75 Kilogramm Alpkäse unterschiedlichster Art. „Wir arbeiten 16 Stunden am Tag in unserem kleinen, aber mühseligen Paradies.“ So nennt Andrea ihr Zuhause. Um vier Uhr klingelt jeden Morgen der Wecker und der Tag beginnt.
Seit einigen Jahren erschweren Extremwetter und erste Auswirkungen des Klimawandels die Arbeit auf der Alpe. Das ständige Sekretariat der Alpenkonvention schreibt in seinem Alpenzustandsbericht von bereits „deutlich spürbaren“ Klimawandelfolgen. Dabei erwärme sich dieser Naturraum etwa doppelt so schnell, wie jede andere Region der Erde, sagt Johanna Felber, Mitarbeiterin im Klimaschutzteam des Deutschen Alpenvereins. Aktuelle Statistiken des Deutschen Alpenvereins sehen außerdem einen kontinuierlichen Anstieg der Jahresmitteltemperatur seit 2010. Die Anzahl der Eis- und Frosttage nimmt ab. In den vergangenen 150 Jahren erwärmten sich die Alpen um zwei Grad Celsius, bis Mitte des 21. Jahrhunderts könnte die Temperatur im Alpenraum um weitere 0,25 Grad steigen.
„Wenn es mal regnet, dann scheppert`s richtig!“
Andrea Friedle (56)
Die Kaiseralpe ist eine von vielen bewirtschafteten Hütten, die den Einfluss des Klimawandels schon jetzt spüren. Vor allem Extremwetterereignisse nehmen seit Jahren zu. Klimastatistiken bestätigen das, denn bis heute hat die durchschnittliche Tagesniederschlagssumme auch in der Region Lechtal/ Außerfern um etwa 30 Prozent zugenommen. Verglichen wird das mit dem Zeitraum von 1971 bis 2000. Auch die Starkniederschlagstage sind im nahen Tiroler Ort Berwang von durchschnittlich 5,4 auf 8,8 Tage im Jahr angestiegen. In den benachbarten Gemeinden ist der Wert ähnlich hoch. Eine Mure aus Schlamm und Geröll ist vor zwei Jahren nahe der Kaiseralpe über den Hang gedonnert. Auslöser war sehr starker Regen in kürzester Zeit. „Wenn es mal regnet, dann schepperts richtig“, beobachtet Andrea die Veränderungen. Gleichzeitig steigt auch die Anzahl zu trockener Tage und Monate. Zu viel und zu wenig Wasser liegen immer näher beieinander. Damit hat nicht nur die Kaiseralpe zu kämpfen. In der Neuen Prager Hütte, im Nationalpark Hohe Tauern, musste in den letzten beiden Jahren die Saison frühzeitig im August beendet werden. Normalerweise versorgt das Hüttenteam bis Anfang Oktober die Besucher.
Auf rund 2800 Metern gab es einfach zu wenig Wasser für die Bewirtschaftung. Die Alpe von Andrea blieb von einem solchen Szenario bislang verschont. Die Gegebenheiten sind andere, auch die Höhe spielt in puncto Wasserversorgung eine wichtige Rolle. Vor der Kaiseralpe fließt ein Gebirgsbach, der dient hauptsächlich dem Vieh. Das Trinkwasser bezieht Familie Friedle von einer Quelle im Tal. Mit einer Pumpe kommt es nach oben und wird an der Hütte, wenn notwendig, erhitzt. Das läuft längst nicht einwandfrei. Die Quelle hatte im Hochsommer 2023 so wenig Wasser geführt, dass die Pumpen nicht funktionierten. „Das ging natürlich an die Substanz“, berichtet Andrea, denn auch im Gebirgsbach war damals viel weniger Wasser. Täglich müssen auf der Alpe 45 Milchkühe und 15 Schweine versorgt werden. Wasserspeichermöglichkeiten hat die Familie nicht.
Die Almwirtschaft ist von unschätzbarem Wert, auch für den Klimaschutz.
Ein Expertenteam aus Tourismus, Politik und Landwirtschaft ist deshalb heute bei Sennerin Andrea zu Besuch. Ein Pilotprojekt, das Klarheit über den Umgang mit sichtbaren und nicht sichtbaren Klimaveränderungen auf Almgebieten schaffen soll. Nicht jedem Almpächter, Senner oder Landwirt ist der Wert seiner Arbeit für den Klimaschutz bewusst. Mit einer standortgerechten Almwirtschaft leistet nicht nur Andrea mit ihrer Familie einen unschätzbaren Dienst, sondern auch viele andere Almbewohner. Beispielsweise befestigt das Vieh beim Fressen mit den Hufen die Hänge. Gut abgegraste Steilflächen verhindern Gleitschneelawinen. Kürzere und robuste Grashalme stellen einen griffigeren Untergrund dar, der eine höhere Oberflächenreibung bildet und dadurch Schnee besser halten kann.



Verbuschung als Hauptproblem
Auch die Sicherung vor Lawinen beginnt eigentlich schon im Sommer. Das sagt auch Alexander Höfner. Er ist Teil der Kaiseralpe-Expertenrunde und Klimawandel-Anpassungsmanager der Region Außerfern/Lechtal und beobachtet seit Jahren Naturveränderungen wie diese. Im Lechtal sieht er einen markanten Anstieg der Baumgrenze und eine Zunahme der „Verbuschung“ von Weideflächen. Das heißt, dass Bäume vermehrt in höheren Lagen wachsen und die Ausbreitung von kleineren Sträuchern zunimmt. Das erhöht wiederum das Risiko von Erdrutschen und Muren. „Wir denken auch hier über alpine Aufforstungen nach. Stabile Wurzeln sind der beste Lawinenschutz“, erklärt Höfner. Auf dem Hang gegenüber der Hütte grasen Andreas Kühe. Vor fünf Jahren wuchs dort nur Gras, jetzt hat die „Verbuschung“, insbesondere durch die Almrose, stark zugenommen. Vor allem der durchschnittliche Temperaturanstieg begünstigt das Wachstum. Wertvolle Weideflächen gehen so verloren und erhöhen fatale Folgen extremer Wetterlagen.



Thomas Frey ist Geschäftsführer des Landesarbeitskreises Alpen vom Bund Naturschutz (BN). Er warnt vor zu großer Panik: „Ich mache mir überhaupt keine Sorgen um die Bewirtschaftung von Almen und den Alpentourismus als Ganzes. Der Klimawandel hat theoretisch mehr positive als negative Effekte für uns.“ Frey begründet das vor allem durch längere Sommer und die schnellere Schneeschmelze. Das schafft neue Möglichkeiten für den Tourismus und die Landwirtschaft am Berg. Beruhigt ist Sennerin Andrea von solchen Aussagen nicht. Schließlich hat sie die negativen Auswirkungen und Veränderungen direkt vor der Haustür. Derzeit macht ihr vor allem ein Felsvorsprung am nahegelegenen Bergmassiv Sorge. Wenn der Permafrost auftaut, wird der Berg brüchig und die unterschiedlichen Schichten werden instabil. „Das mag man sich gar nicht ausmalen, wenn die Massen da runterbrechen“, stockt Andrea. Sie kann in ihrem Kopf keinen Platz für solche Vorstellungen schaffen, weil sie Angst davor hat.
Zukunft der Almwirtschaft mit Happy End?
Damit ist Andrea längst nicht mehr allein. Laut European Geosciences Union gehe es nicht mehr darum, ob es wärmer wird, sondern wie hoch der Temperaturanstieg ausfalle. „Wir brauchen dringend ein besseres Bewusstsein für die Auswirkungen unseres Handelns für den Alpenraum und eine Politik, die mutig anpackt“, sagt Philipp Namberger. Der promovierte Geograph forscht am Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographien der Zukunft an der LMU München. Für Andrea Friedle ist eines klar: Sie wird alles dafür tun, dass sie hier vor der Kaiseralpe noch in zehn Jahren stehen kann und den Kühen beim friedlichen Grasen zuschauen darf. Einfach wird das – und da ist sich Familie Friedle einig – ganz bestimmt nicht.
